In Deutschland verweist man gerne und oft auf die historische Verantwortung. Verbessert der häufige Rückgriff den gesellschaftlichen Diskurs?
Gestern ist es wieder passiert: ein Bekannter schrieb auf Facebook:
“Dass sich gerade in Deutschland viele Menschen mit Waffenlieferungen schwer tun, finde ich absolut nachvollziehbar. Viele sehen hier eine historische Verantwortung. Es war ja nicht grundlos jahrzehntelang deutsche Doktrin, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern. Die Furcht, dass der Konflikt hierdurch eskalieren könnte, ist auch nicht von der Hand zu weisen.”
Da ist eine Gesinnung auf den Punkt gebracht, die sich in dieser Form ausschließlich in Deutschland beobachten lässt. Also, der Reihe nach. Zunächst die Angst vor Russlands Reaktion. Eigentlich plausibel. Wer will schon in Putins Fadenkreuz geraten? Nur – wer im Frühjahr ‘22 soviel Angst vor Putin hat, dass er sie zum Leitmotiv des politischen Handelns macht, hätte vielleicht in den Jahren vorher die vielen Warnungen der Welt nicht ganz so leichtfertig und arrogant in den Wind schlagen sollen.
Gefahren stur auszublenden, solange sie Andere betreffen, dabei viel Geld zu verdienen, um dann im Anschluss umso ängstlicher zu agieren, sobald die eigene Sicherheit zur Debatte stehen könnte – ein schmeichelhaftes Bild ist es nicht, das Deutschland hier abgibt.
Aber die Erlösung steht bereit: die Doktrin, in Krisengebiete keine Waffen zu liefern, ein Evergreen des deutschen Pazifismus, oft und gerne zitiert, ein Sinnbild edler Gesinnung. Und natürlich, im klassischen Duett: der deutsche Pazifismus als Folge und Ausweis einer besonderen Verantwortung vor der Geschichte.
Mit ein paar kurzen Worten hat man eine Haltung, die man sonst als schwächlich bezeichnen könnte, in das edle Handeln eines geläuterten Landes verwandelt, das vorbildlich aus der Vergangenheit gelernt hat und deshalb fortan sein Verhalten nach höchsten Standards ausrichtet. Ein argumentativer Geniestreich, dessen Gebrauch entsprechend weit verbreitet ist.
Oft wiederholt, selten hinterfragt
Es gibt nur einen Haken: die Argumentation ist unhaltbar.
1. Der Pazifismus ist mitnichten die offensichtliche Lehre aus der deutschen Geschichte. Es war nicht der Pazifismus, der die Menschheit vom Joch der Nazis befreit hat, sondern eine unerbittliche Kriegsmaschine. Soldaten, Partisanen, Widerstandskämpfer, Ingenieure, Wissenschaftler, Saboteure und Spione, die sich heldenhaft und über Jahre hinweg dem Hitlerschen Verbrecherregime entgegen geworfen haben, vielfach gefallen sind, aber letztendlich nur so die Grundlage für Frieden, Freiheit und Wohlstand in Europa geschaffen haben. Selbstverständlich unter Verwendung von Waffen.
Mir ist kein Fehlschluss bekannt, der häufiger wiederholt und seltener hinterfragt wird als dieser.
2. Wer ernsthaft nach Lehren aus der deutschen Vergangenheit sucht, und sich dabei auch in die Perspektive der zahllosen Opfer des Dritten Reiches begibt, stößt viel plausibler auf ganz andere Schlussfolgerungen. Z.B, nie wieder Völkermord. Nie wieder Vernichtungskrieg. Nie wieder Appeasement. Nie wieder Verharmlosung derer, die Unerhörtes sagen, denn sie meinen es häufig ernst. Das alles wären moralisch bedeutsame Kategorien, die aber ganz andere Imperative erforderlich machten, die in der deutschen Diskussion kaum eine Rolle spielen, und in keiner “Staatsdoktrin” verankert sind.
3. Wer sich einer besonderen historischen Verantwortung stellt, unterwirft sich einer Bürde. Man muss sein Handeln der Verantwortung anpassen, notfalls auf Kosten der eigenen Interessen. Ansonsten ist sie bedeutungslos. Mitnichten darf eine historische Verantwortung ex-post-facto als Vermarktung des Kurses ins Feld geführt werden, den man aus ganz anderen Gründen eingeschlagen hatte. Es ist ein Missbrauch, wenn man aus Angst vor Putin nicht handelt, und als Rechtfertigung aber auf die deutsche Vergangenheit verweist. So wird aus der Bürde der Schuld ein Werkzeug zu Diensten der Schuldigen.
4. Die deutsche Doktrin, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern, ist nicht nur eine fragwürdige Schlussfolgerung aus den Lehren der Geschichte. Sie war auch in weiten Teilen eine Fiktion. Deutschland ist seit Jahren einer der weltweit größten Waffenexporteure, inklusive in kriegführende Krisengebiete, wie Saudi Arabien, die Türkei, Ägypten und, man staune, offenbar auch an Putins Regime. Die deutsche “Doktrin” konnte also je nach Bedarf bemüht oder ignoriert werden, wurde aber unbeirrt wie eine Monstranz vor sich hergetragen, der Welt präsentiert und im eigenen Land weithin für richtig und verbindlich gehalten. Betrug und Selbstbetrug im gleichen Maße.
Wohlfeiles Wedeln mit der Verantwortung
Mich überkommt Unbehagen angesichts des wohlfeilen Wedelns mit der Verantwortung durch meinen Bekannten, und wie es in ähnlicher Form an vielen Stellen in der öffentlichen Diskussion auftaucht. Ist das die vielgerühmte Erinnerungskultur in Deutschland? Was für eine Auswirkung hat sie eigentlich auf die Meinungsbildung im Land? Richtet sie in Ihrer gegenwärtigen Ausprägung vielleicht mehr Schaden an, als sie Gutes tut?
Es spricht einiges dafür. Nicht nur hat sie die Integrität der deutschen Außenpolitik nicht zu erhöhen vermocht. Vielmehr hat das penetrante, aber opportunistische Verweisen auf die Vergangenheit beigetragen zu einer Positionierung, die unter objektiven Kriterien kaum noch nachzuvollziehen ist. Die Verweigerung von Waffenlieferungen durch die Regierung Scholz bis in die ersten Kriegstage hinein ist nicht nur in der Ukraine nicht zu vermitteln. Und es war Frank-Walter Steinmeier, einer der umtriebigsten “Historiker” der ex-post-facto Kategorie, der seine fehlgeleitete Russlandpolitik immer wieder mit selektiv zusammengeklaubten Geschichtsverweisen zu rechtfertigen suchte. Was er bei seinen Festreden nicht erwähnt hat, waren die dahinterstehenden wirtschaftlichen Interessen. So gesellt sich zum Sündenstolz die Sündendividende. Die Unredlichkeit seiner Argumentation bietet die Grundlage für das Zerwürfnis zwischen ihm und der ukrainischen Staatsführung, die sich inzwischen nicht mal mehr gemeinsam mit ihm fotografieren lassen will.
Ganz allgemein wird im Ausland Deutschlands Haltung immer mehr mit Befremden zur Kenntnis genommen. Im Land selber ist man dabei weiterhin mächtig stolz auf seinen Umgang mit der Geschichte. Wenn es der deutschen Zivilgesellschaft aber ernst ist mit ihrer historischen Verantwortung, wäre es höchste Zeit für die offene und schmerzliche Revision der zu ziehenden Lehren.
Selbst dann ist es klar, dass die Aufarbeitung der Geschichte immer unvollkommen bleiben wird. Dafür ist die Welt zu kompliziert. Außerhalb spezifisch historischer Thematik sollte man sich den flotten Hinweis auf Vergangenheit und Verantwortung daher öfters mal verkneifen, um die Geschichte nicht vollends zum Selbstbedienungsladen genehmer Argumente verkommen zu lassen.
Man kann seine Standpunkte auch anders begründen. Und wenn nicht, spricht es mitunter nicht für die Qualität des Standpunkts.